Samstag morgen um etwa 8 Uhr fahre ich auf den Parkplatz, um mich mit Theresa zum Shooting zu treffen. Eigentlich ist es viel zu früh, ich bin absolut kein Morgenmensch. Während der Fahrt gehe ich innerlich nochmal alles durch, sortiere vor allem Bilder, die ich vor jedem Shooting gedanklich mache. Eine Art Mediation, die mir Ruhe bringt und ein klein wenig die Anspannung nimmt. Anspannung kann ich nach außen hin gut verbergen, konnte ich schon immer – egal, ob ich damals in der Schule ein Referat halten sollte oder wenn ich jetzt eine Hochzeit fotografiere und als einzige Fremde zu einer großen vertrauten Gruppe stoße. Dann ist sie immer da, die Anspannung. Werde ich alles richtig machen? Mache ich einen guten Eindruck? Fühlen sich alle wohl mit mir als Fotografin? Was ist wenn ich es vermassele? Was ist wenn jemand unzufrieden mit meiner Leistung ist? Immer diese Wasistwenns.
Nach außen hin sagt dann jeder, „Wahnsinn, wie locker du das immer alles machst“! Doch die Wahrheit ist, da ist gar nichts locker. Nach außen hin vielleicht. Nach außen so locker wie eine frisch gedrehte Jahrmarktszuckerwatte, nach innen hin eher wie ein gespannter Bogen. Und in diesen Momenten merke ich ich wieder, wie sehr wir doch vor allem eines sind: Wir sind viele.
Wir sind immer gerade die Person, die eine Situation erfordert. Sind wir dann Lügner? Schauspieler? Heucheln wir etwas vor, was wir eigentlich doch gar nicht sind? Nein, ich glaube nicht. Wir sind eher wie Spiegel. Spiegel unserer Umgebung. Spiegel zeigen das, was da ist. Vielleicht manchmal ein klein wenig verzerrt, etwas größer, kleiner oder krummer. Doch immer die Wahrheit. Man sagt oft, ein Charakter ist fest. Spricht von gefestigten Menschen. Aber ich glaube, unser Charakter ist fließend, wie flüssiges Gold oder Silber. Niemals starr oder gefestigt. Wir sind wahre Anpassungskünstler.
Theresa ist vor mir da, steigt in einer grauen Sweatjacke, Jeans und Turnschuhen aus dem Auto. Sie hat noch ein zweites Paar Schuhe für das Shooting mitgebracht. Ein paar derbe Wanderstiefel. Ich muss lachen – Wanderschuhe? „Ich hab‘ doch von solchen Dingen überhaupt keine Ahnung!“, sagt sie entschuldigend. Mein Blick geht kurz zu meiner Rücksitzbank und dem Haufen aus mädchenhaften Kleidern, die ich in morgendlicher Schlaftrunkenheit wahllos ins Auto geschlichtet habe. Ich zucke die Achseln. Also gut, dann eben Wanderschuhe, denke ich mir. Warum nicht. Und dann zogen wir los, fanden auf dem Weg zur geplanten Location noch weitere ungeplante. Noch schönere. Bemerkten, dass ein bodenlanges Maxikleid ganz fabelhaft zu derben Wanderschuhen passt. Stellten fest, dass Mathegenies auch vor der Kamera glänzen können. Wurden von uns selbst überrascht. Und da hatte ich ihn, einen dieser Moment, die niemals anklopfen oder vorher anrufen, sondern wie die besten Freunde einfach ungefragt vor der Tür stehen und einen Kaffee wollen: Wir sind eben viele.
So lange ich eigentlich denken kann, hatte ich immer wieder Momente, in denen ich nicht wusste, wer ich bin – oder wer ich sein wollte. Was genau genommen auf das Gleiche herauskommt. Bis plötzlich. Bis ich plötzlich dachte, dass ich doch auch viele sein kann. Ich kann an manchen Tage traurig und melancholisch sein, an anderen aufgedreht und voller Euphorie und an anderen zynisch und miesepetrig. Heute zurückhaltend, morgen extrovertiert. Und es ist nicht schlimm. Es bedeutet nicht, schwach zu sein oder nicht zu wissen, wer man eigentlich ist. Es nicht nicht schlimm, wenn man einmal ganz anders ist als sonst. Denn wir sind sowieso einfach nur wir plus unsere Umgebung. Es gibt kein ich ganz allein. Sondern nur ein ich + x (Und so eine Aussage von jemanden, der im Mathegrundkurs gnadenlos unterpunktet hat). Wir sind eben viele. Wir sind so viele verschiedene Charaktere in einem Körper und nehmen von Situation zu Situation, Gegenüber zu Gegenüber den passenden heraus. Streifen ihn über wie einen Ganzkörperanzug. Nicht immer treffen wir die richtige Wahl, nicht immer sind wir angemessen gekleidet. Und dann denke ich an das Shooting mit Theresa zurück. Als aus einem nicht zusammenpassenden Mix aus bodenlangem weißem Kleid, einem alten Strickcardigan, der eigentlich gegen eventuelles Frieren gedacht war und einem paar derber Wanderschuhe unser Lieblingsbild entstand.
In dem Moment, in dem man sich von dem loslöst, was man glaubt tun zu müssen, den Spiegel für eine Zeit lang verdeckt, sich von dem freimacht, von dem es heißt, dass es so gehört, zusammenpasst oder sein soll – genau dann entsteht das wirklich Fabelhafte. Ich zucke die Achseln. Also gut, dann eben Wanderschuhe, denke ich mir. Warum nicht.
Diese Serie entstand in und rund um Pegnitz in der Nähe von Nürnberg. Wir haben uns treiben lassen von allen Dingen, die uns spontan gefallen haben. Weshalb so einige verschiedene Momente entstanden sind. Wir haben vieles entdeckt, auch einiges an uns selber.
Danke an dieser Stelle an dich Theresa, für dein absolutes Vertrauen.